Fotografisch festgehaltene Erinnerungen der Norwegenreisen Kaiser Wilhelms II., aber auch der ersten Orient- und Nordland-Kreuzschifffahrten des Schiffs AUGUSTA VICTORIA stehen exemplarisch für den stetig wachsenden fotografischen Bildermarkt des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Aufnahmen wie diese analysiert PD Dr. Gisela Parak am Deutschen Schifffahrtsmuseum / Leibniz-Institut für Maritime Geschichte im Rahmen des Forschungsprojekts „Das Andere sehen?“. Das damit verbundene Ausstellungsprojekt wird durch den Aktionsplan Leibniz-Forschungsmuseen gefördert.
Auf den Schiffen erlebte die Reisefotografie eine zweite Blüte. Im Zuge der „Kodakification“ ermöglichte eine vereinfachte Fototechnik fotografischen Amateuren mit den unterschiedlichsten sozialen Hintergründen und Interessen, auch zur See ihre Eindrücke der Reisen festzuhalten. Per Schiff erreichten die Vertreter der sich herausbildenden Disziplin der Ethnologie ihre Untersuchungsgebiete; in einigen Fällen wurden zudem die Seefahrer selbst zu beobachtenden „Ethnologen“ und fertigten volkskundliche Betrachtungen über „Land und Leute“ an.
Der explodierende Bildmarkt der Jahrhundertwende begann zugleich die Gegebenheiten in den bereisten Ländern und Kulturen zu verändern und trat in Wechselwirkung mit den ‚Fremden‘. Indigene Volksstämme der Arktisregionen, aber auch der Südsee interagierten mit den Schiffsreisenden und führten Traditionen und Lebensweise vor, um einprägsame „Erinnerungsbilder“ für die kosmopolitischen Globetrotter zu schaffen.
In diesen bildlichen Inszenierungen spiegeln sich zeitgenössische Stereotype wider, die sich bereits zuvor anhand von Populärromanen oder belletristischen Reiseberichten, aber auch der „Völkerschauen“ herausgebildet hatten. Fotografische Bilder schrieben diese Klischees fort und übersetzten sie in einfach zu rezipierende, vermeintlich „authentische“ Belege, die gesellschaftliche Vorstellungen zu bestätigen schienen.
Das Forschungs- und Ausstellungsprojekt „Das Andere sehen?“ erörtert das Medium der Fotografie und fotografischer „Erinnerungsbilder“ zwischen den Polen ethnologischer Betrachtung und zeitgenössischer Bildklischees und zeichnet Aspekte der visuellen Eroberung fremder Kulturen in der Kaiser- und Kolonialzeit nach. Das Projekt zeigt aus einer zwangsläufig eurozentristischen Perspektive heraus das Entstehen bildlicher Vorstellungen über „das Fremde“ auf, für die das Schiff als zentrales Medium der Verbreitung von „Wissen“ respektive kollektiver Vorstellungen fungierte.
Die fotografischen Reise- und Erinnerungsalben schifffahrtlicher Provenienzen verdeutlichen hierbei den Einsatz der Marine als militärischer Agent zur Durchsetzung kolonialer Machtansprüche. Die Fotografien sind als Ausdruck der widersprüchlichen und ambivalenten Ausprägungen der deutschen Kolonialgeschichte zu verstehen. Sie führen den Einsatz der Expeditionskorps vor Augen, andererseits aber auch die Funktion der Schiffe als Medien transkultureller Kontaktaufnahme.
Die fotografische Blicke auf die „entdeckten“ fremden Kulturen waren dabei niemals unvoreingenommen, sondern zutiefst geprägt von einem kolonialistischen Weltverständnis.
Die Erinnerungsalben halten fest, wie das Fernweh der Wilhelminischen Gesellschaft diese in fremde Länder führte, von deren andersartiger Kulturen eine starke Faszination ausging. Die bildlichen Überlieferungen stehen exemplarisch für diesen Blick in die Ferne, werfen jedoch vor allem den Blick zurück auf die gesellschaftlichen Wahrnehmungsmuster der Kolonialisatoren.